„Menschen stürzen hier zu Tode und unsere beschissene Küste des Steins steht da, als sei nichts gewesen.“
Kommissar Clemens Flemming schaute angewidert auf den leblosen Körper, der mit fast schon ironischer Sanftheit von der Ostsee umspült wurde, während sich die Spurensicherung um ihn herum zu schaffen machte.
„Lassen Sie mich raten, Brock. Junger Mann, Mitte zwanzig, blond, blauäugig?“
„So sieht’s, aus Chef.“ Brock kniete neben der Leiche, die er soeben noch begutachtet hatte. „Und ich wette um fünfzig Mark, dass der arme Kerl genauso voller Rohypnol war wie seine Vorgänger.“ „Das wären ja fast zwei Euro“, entgegnete Flemming mit fast schon zynischem Unterton.
Obwohl es erst acht Uhr morgens war, zündete er sich eine Zigarette an. Es war nicht die Erste.
Was sollte er auch sonst tun? Bevor seine Kollegin Marie Januschke eintraf, blieb ihm nichts anderes übrig. Reicht ja, wenn die Kollegen das alles einmal erzählen, dachte er.
Es dauerte noch eine weitere Zigarette und einen halben schwarzen Kaffee aus einem Plastikbecher, bis Januschke endlich mit dem Fahrrad eintraf. Sie sah noch etwas zerknittert aus, die schwarzen Locken waren hastig zu einem Knoten zusammengebunden und der Kragen ihrer Bluse trat etwas schief unter ihrem Pullover hervor.
„Na, haben Sie es nicht gleich gefunden?“
„Sehr witzig.“ Alle Leichen waren exakt am gleichen Ort aufgetaucht. Januschke war überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Und das nicht nur, weil sie erst vor drei Stunden völlig betrunken ins Bett gefallen war. Die Polizei tappte seit Monaten im Dunkeln was die “Steinküstenmorde”, wie die Presse sie nannte, anging.
Beim Blick auf die Leiche merkte Januschke, dass sie bei Weitem noch nicht nüchtern war. Sie hätte eigentlich selbst mit dem Fahrrad noch nicht herfahren dürfen, schob den Gedanken aber schnell weit weg und konzentrierte sich darauf, ihren Magen nicht in die Ostsee zu entleeren.
„Zigarette?“, fragte Flemming süffisant, dem die recht offensichtliche Situation seiner Kollegin nicht entgangen war.
„Oh Gott, nein“
„Kaffee?“
„Ist einen Versuch wert …“
„Gibt's da vorne.“
„Ich hasse Sie.“
„Ja, ja.“
Flemming war Hass gewohnt. Eine seiner Stärken war es, die wunden Punkte seiner Mitmenschen schnell zu erkennen, und er ließ es sich nicht nehmen, immer wieder auf diesen Punkten herumzudrücken. Seine Exfrau meinte beobachtet zu haben, dass er das nur bei Menschen machte, die er gerne mochte. Um zu große Intimität zu vermeiden, hatte sie gesagt. Das mochte so sein. Flemming lehnte es ab, zu sehr über das Warum und Weshalb des eigenen Lebens nachzudenken, denn es funktionierte ganz okay für ihn. Und über die Trennung von seiner Exfrau war er auch nicht allzu traurig gewesen.
„Chef, bei den zwei Euro ging’s nur ums Rohypnol, oder?“ Bock war wohl mit der ersten Inaugenscheinnahme der Leiche fertig und kam auf die beiden zu, um Bericht zu erstatten.
„Wenn Siele so fragen, nein.“
„Na ja, is auch egal, halten Sie sich fest. Der junge Mann ist kein junger Mann, sondern eine junge Frau!“
„Hä? Und das fällt Ihnen erst jetzt auf? Sie sind doch schon eine Stunde hier!“ Januschke war sichtlich genervt von der Situation und noch nicht in der Lage, das zu überspielen.
„Ich heb mir halt das beste zum Schluss auf“, erwiderte Bock. „Außerdem war der Körper auf den ersten Blick recht androgyn, deshalb haben wir es erst beim Umdrehen der Leiche bemerkt. Na ja, kann schon mal passieren, gell?“
„Januschke, machen Sie nicht so ein Gesicht“ Flemmings Laune schien angesichts dieser unerwarteten Nachricht zu bessern, was Januschke innerlich zur Weißglut brachte. Sie wollte nichts mehr als in ihr Bett zurück. Und eventuell vorher noch einmal dem Keramikgott huldigen. „Das sind gute Neuigkeiten! Alles, was diesen Fall von den anderen unterscheidet, gibt uns neue Hinweise. Vielleicht schaffen wir’s jetzt endlich mal ein paar Schritte weiter!“ Diesmal war seiner Stimme weder Ironie noch Zynismus beigemischt.
„Urch, Sie haben ja Recht, Flemming. Ganz ausnahmsweise haben auch Sie mal Recht …“, seufzte Januschke und unterdrückte mit aller Kraft einen plötzlich aufkommenden Würgereiz.